„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.“ (Marcel Proust)
Die Farbradierung „Galaxis“ von Uwe Bremer (*1940) aus dem Jahr 1967 ist ein faszinierendes Beispiel für den phantastischen Realismus, den der Künstler in seinem Werk kultiviert hat. Mit einer Bildfläche von 31,5 x 39,5 cm entfaltet sich auf Papier eine komplexe, symbolisch aufgeladene Komposition, die sowohl ästhetisch als auch intellektuell herausfordert.
Der Bildgrund ist ein feines Gittermuster, das wie ein Koordinatennetz wirkt – eine visuelle Referenz an wissenschaftliche Kartografie und astronomische Raster. In der unteren Hälfte erscheint eine Windrose, deren Himmelsrichtungen klar eingezeichnet sind. Daneben leuchtet der „Polarstern“ auf, ein Fixpunkt der Navigation und Orientierung, der in der Seefahrt wie in der Astronomie eine zentrale Rolle spielt. Diese Elemente verankern das Bild in einer Welt der Vermessung und Erkundung, die 1967 auch die globale Stimmung prägte: Die Raumfahrt war auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, und die bevorstehende Mondlandung elektrisierte die Vorstellungskraft der Menschen weltweit.
Durch die untere Bildhälfte zieht sich eine bogenförmige Formation aus Sternenformen, Buchstaben und mikroskopisch kleinen Mustern – wie eine galaktische Schriftrolle, die sich durch das Bild windet. In ihrer Mitte ragt ein weißer Kreis mit gelbem Zentrum hervor, dessen gekrümmte Buchstaben an eine codierte Botschaft erinnern. Darüber erhebt sich ein größeres, aus Einzelteilen zusammengesetztes Gebilde, das an einen Unterkörper mit Beinen erinnert – eine hybride Figur zwischen Maschine und Organismus, typisch für Bremers Bildsprache. Die hellgelbe Farbfläche, die sich von diesem Zentrum aus über das Gitter ausbreitet, wirkt wie eine Strahlung oder ein Energiefeld, das sich in die Umgebung ergießt.
In der oberen rechten Ecke dominiert ein großer Kreis etwa ein Viertel der Bildfläche. Sein Inneres ist mit symmetrischen Ornamenten gefüllt, die an ein vertikales Maul mit Reißzähnen, Beine und Augen erinnern – eine groteske, fast bedrohliche Kreatur, die aus der Tiefe des Kosmos zu blicken scheint. Links davon breitet sich eine schwarze Fläche aus, in der ein weiß-rosa gestreifter Ring schwebt – wie ein fremder Planet oder ein technisches Artefakt.
„Galaxis“ ist Teil des Mappenwerks „Curiosa der Galaxis“, das Bremer 1967 veröffentlichte – in einem Jahr, das von wissenschaftlicher Euphorie und futuristischer Vision geprägt war. Die USA befanden sich mitten im Apollo-Programm, und die erste bemannte Mondlandung war nur zwei Jahre entfernt. Die Raumfahrt wurde zum Mythos, zur Projektionsfläche für Hoffnungen, Ängste und utopische Vorstellungen. Bremer greift diese Stimmung auf, doch statt heroischer Raketen zeigt er eine Welt voller Rätsel, Zeichen und hybrider Wesen – eine Galaxis, die nicht erobert, sondern gedeutet werden will.
Sein Werk ist keine Illustration der Raumfahrt, sondern eine poetische Reflexion über das Verhältnis von Mensch, Technik und Kosmos. Die Radierung „Galaxis“ ist damit nicht nur ein ästhetisches Objekt, sondern ein Zeitdokument, das die geistige Atmosphäre von 1967 in künstlerischer Form einfängt – zwischen wissenschaftlicher Präzision und phantastischer Spekulation.
„Galaxis“, Farbradierung auf Papier, Uwe Bremer 1967, 31,5 x 39,5 cm, OLA 70113