„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“ (Benjamin Franklin).
Der Farbholzschnitt „Le Penseur“ (Der Denker) von Marie-Luise Blersch-Salden aus dem Jahr 1975 stellt den berühmten Wasserspeier „Le Stryge“ an der Fassade der Kathedrale Notre-Dame in Paris dar. Die groteske Figur wird in ihrer charakteristischen melancholischen und nachdenklichen Pose gezeigt, was sie von anderen Wasserspeiern der „Galerie des Chimères“ unterscheidet.
Marie-Luise Blersch-Salden, geboren 1939 in Elbing, Westpreußen, ist eine international anerkannte deutsche Künstlerin und Museumspädagogin. Sie studierte Kunst in Hamburg und Kiel und setzte ihre Ausbildung 1974 als Gaststudentin an der renommierten École des Beaux-Arts in Paris fort. Diese Zeit in Paris war für sie sowohl künstlerisch als auch persönlich prägend und beeinflusste ihre spätere Arbeit erheblich.
Der Farbholzschnitt „Le Penseur“ entstand inmitten der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Mitte der 1970er Jahre in Frankreich. Diese Zeit war geprägt von sozialen Unruhen, politischen Krisen und einem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit. Inmitten dieser Herausforderungen fand Blersch-Salden Inspiration in der Geschichte und den Legenden rund um Notre-Dame und schuf mit „Le Penseur“ ein Werk, das sowohl die Schönheit als auch die Dunkelheit der Kathedrale einfängt.
„Le Stryge“ selbst ist eine faszinierende Figur, die nicht etwa mittelalterlich ist, sondern während der Restaurierung der Kathedrale im 19. Jahrhundert von Eugène Viollet-le-Duc hinzugefügt wurde. Der Name „Le Stryge“ leitet sich vom lateinischen Wort „striga“ ab, was „Hexe“ oder „Eule“ bedeutet. Diese Figur symbolisiert sowohl Weisheit als auch das Böse und ist ein Beispiel für die komplexe Symbolik, die in der Architektur des Gotteshauses zu finden ist.
Apotropäische Figuren, wie „Le Stryge“ an der Fassade von Notre-Dame, hatten ursprünglich die Funktion, böse Geister und negative Energien abzuwehren. In der gotischen Architektur werden solche Figuren oft als Wasserspeier oder groteske Darstellungen ausgeführt, um sowohl ästhetische als auch funktionale Zwecke zu erfüllen.
Der Farbholzschnitt von Blersch-Salden kann dieser Lesart zufolge auch als Metapher für den modernen Bedarf an Abwehrmechanismen gegen die Bedrohungen und Unwägbarkeiten unserer heutigen Gesellschaft gedeutet werden. Figur und Bild repräsentieren den menschlichen Drang, sich durch Symbole und Rituale zu schützen und ein Gefühl der Kontrolle über das Unvorhersehbare zu erlangen. Und wodurch könnte das besser funktionieren, als durch die genuin menschliche Fähigkeit des Intellekts? Denn Sicherheit lässt sich nicht durch das Aufgeben der Freiheit gewinnen, wie es in diesen Tagen leider oft praktiziert wird, sondern nur durch das Licht klarer Gedanken. So verwandelte sich die pseudo-mittelalterliche Hexe bei Blersch-Salden in den postmodernen Denker, was uns auch heute noch zu denken geben sollte.
Marie-Luise Blersch-Saldens „Le Penseur“ ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Fähigkeit der Künstlerin, historische und kulturelle Themen in ihre Kunst zu integrieren und sie auf eine Weise darzustellen, die sowohl ästhetisch ansprechend als auch mehrschichtig in ihrer Bedeutung ist.
