„Altern heißt, sich über sich selbst klar werden.“ (Simone de Beauvoir)
Der Holzschnitt „Alter Mann am Weg“ von Alf Depser (1899-1990) entstand vermutlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich der Künstler zunehmend mit seinem eigenen Alter auseinandersetzte. Die Darstellung zeigt einen alten Mann, der am Rand eines Weges sitzt, sich auf einen Stab stützt und seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hat. Die Szene ist in Weiß- und Brauntönen gehalten und vermittelt eine ruhige, aber nachdenkliche Atmosphäre. Der Weg führt zu einem Scheideweg, während sich im Hintergrund eine sanfte Hügellandschaft mit vereinzelten Bäumen und Büschen erstreckt. Dünne, junge Bäume am Wegesrand neigen sich nach links, was auf starken Wind hinweist.
Besonders auffällig ist der blattlose Baum neben dem alten Mann, der – genau wie dieser – von einem Stock gestützt wird. Diese Parallele zwischen Mensch und Natur verstärkt die Symbolik des Bildes. Der Baum, dessen Blätter fehlen, wirkt wie ein Sinnbild für das fortgeschrittene Alter und die Vergänglichkeit des Lebens. Er steht karg und unverziert an der Wegseite, ebenso wie der Mann, der sich auf seinen Stab stützt. Die Stützen beider – für den Mann der Stock, für den Baum das Holzgerüst – verdeutlichen die Notwendigkeit einer äußeren Hilfe, um Standhaftigkeit zu bewahren. Dies könnte auf die Fragilität des Alters hinweisen und die Abhängigkeit von Unterstützung im fortgeschrittenen Lebensabschnitt betonen.
Gegenüber dem Mann, auf der anderen Seite des Weges, befinden sich drei Baumstümpfe, die er scheinbar betrachtet. Diese Stümpfe stehen im Gegensatz zu den jungen Bäumen am Wegesrand und können als Symbole für Vergänglichkeit und Abschied interpretiert werden. Sie sind Reste von einst lebenden Bäumen, die ihre Zeit hinter sich haben – eine Parallele zum Leben selbst und insbesondere zum Lebensweg des alten Mannes. Es liegt nahe, dass diese Stümpfe für Verstorbene stehen, Menschen, die der Mann einst kannte und nun auf seiner Reise zurücklassen musste. Seine Haltung, sein Innehalten und sein Blick auf diese Überreste vergangener Existenz verleihen dem Bild eine tiefere melancholische Note und machen es zu einer Reflexion über Erinnerung und Verlust. Der Weg, der zwischen ihm und den Stümpfen verläuft, könnte die Grenze zwischen dem Irdischen und dem Jenseitigen symbolisieren – eine Schwelle, die er noch nicht überschritten hat, aber bereits mit Gedanken an die Vergänglichkeit des Lebens füllt.
Die Wahl des Motivs lässt sich als symbolische Darstellung eines Lebensabschnitts deuten. Der alte Mann sitzt am Scheideweg – einem Punkt, der nicht nur geografisch, sondern auch im übertragenen Sinne für eine entscheidende Phase im Leben steht. Gerade für Depser, der sich in diesen Jahren intensiv mit Alter und Vergänglichkeit auseinandersetzte, dürfte dieser Bildaufbau von besonderer Bedeutung gewesen sein. Der Scheideweg verweist auf den Übergang, auf das Nachdenken über den zurückgelegten Weg und die verbleibenden Möglichkeiten. Der Wind, der die Bäume neigt, könnte als Sinnbild für die Unbeständigkeit des Lebens gesehen werden, das sich nicht immer nach eigenen Wünschen lenken lässt.
Auch die Körperhaltung des Mannes ist bemerkenswert: Er scheint sich auszuruhen, vielleicht innehaltend, um über seine Reise nachzudenken. Der Stab als Stütze unterstreicht die Zeichen der Zeit, die Müdigkeit und den Erfahrungsschatz, den das Leben mit sich bringt. Das reduzierte Farbspiel betont die Schlichtheit der Szene und lenkt die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Elemente der Komposition. Depser gelingt es, ein Motiv zu gestalten, das nicht nur einen Moment des Nachdenkens einfängt, sondern auch größere Fragen nach dem Verlauf des Lebens und den Wegmarken, die jeder Mensch durchläuft, aufwirft.
Alf Depser wurde 1899 in Nürnberg geboren und war ein deutscher Grafiker, Maler, Zeichner und Holzschneider. Seine künstlerische Laufbahn begann früh: Bereits als Vierzehnjähriger führte er Skizzenbücher, in denen er seine Eindrücke zeichnerisch festhielt. Nach einer kurzen Tätigkeit als Chemiker entschied er sich für eine künstlerische Ausbildung und studierte ab 1926 Grafik an der Staatshochschule für angewandte Kunst in Nürnberg. Dort erhielt er eine umfassende handwerkliche Ausbildung, die sich besonders auf das Zeichnen in der Natur, Radierungen und Holzstiche konzentrierte.
Seit den 1930er Jahren arbeitete Depser freischaffend als Maler und Grafiker und war Mitglied des Bundes Deutscher Maler und Graphiker. Besonders prägend war seine Verbindung zu Ostfriesland, wo er regelmäßig die Küstenregion erkundete und Landschaften sowie Architektur direkt vor Ort skizzierte. 1936 erwarb er ein Insulanerhaus auf Juist, das ihm als Atelier diente und in dem er eine der ältesten Radierpressen Deutschlands betrieb. Seine Werke zeichnen sich durch eine hohe handwerkliche Präzision und eine naturgetreue Darstellungsweise aus.
In den 1950er Jahren begann Depser, romanische und gotische Backsteinkirchen Ostfrieslands und angrenzender Regionen zu zeichnen. Auf Grundlage dieser Zeichnungen fertigte er Holzstiche an, die von Kirchengemeinden für amtliche Zwecke genutzt wurden. Die Holzstöcke blieben in seinem Besitz, und er begleitete persönlich den Druckprozess bei Nachbestellungen. Sein Werk umfasst zahlreiche Darstellungen ostfriesischer Kirchen, Landschaften und Küstenmotive, die seine tiefe Verbundenheit mit der Region widerspiegeln.
Depser verstarb 1990 auf Juist. Sein künstlerisches Erbe lebt in seinen detailreichen Holzschnitten und Radierungen weiter, die nicht nur kunsthistorisch bedeutsam sind, sondern auch die ostfriesische Landschaft und Architektur in einzigartiger Weise dokumentieren.
