„Jede Landschaft ist ein Zustand des Geistes.“ (Henri Frederic Amiel)
Als Almuth Baumfalk diese großformatige Grafik „Ostfrieslandkarte“ im Jahre 1990 anfertigte, lag der Fleischkonsum in der Bundesrepublik Deutschland bei etwa 63,9 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Der Verzehr war stark von Schweinefleisch dominiert, gefolgt von Geflügel und Rindfleisch. Im Vergleich dazu hat sich der Fleischkonsum in Deutschland bis 2023 auf etwa 52 Kilogramm pro Kopf und Jahr reduziert. Ostfriesland ist eine Region, in der die Massentierhaltung eine bedeutende Rolle spielt, auch heute noch. Die Weser-Ems-Region ist das Zentrum der Fleischproduktion in Niedersachsen, wo die meisten der fast 65 Millionen Masthühner und 9 Millionen Schweine gehalten werden.
Baumfalks Grafik ist eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Indem die Künstlerin aus Aurich mittels Schablonentechnik die Massentierhaltung förmlich in die Landschaft einschreibt, die Nordsee als ein Meer aus Würsten zeichnet und die vorgelagerten Inseln als Schinken erscheinen lässt, schafft sie beim Betrachter ein Bewusstsein für die umfängliche Bedeutung der Viehhaltung in der Region. Die markante Küstenlinie wird durch eine kraftvolle Kuhpyramide ergänzt, die in ihrer Farbwahl und Komposition Assoziationen zu einem Fleischberg weckt, ohne dabei ihre heitere, dekorative Musterung zu verlieren. Baumfalk beschreibt blutige Tatsachen gleichsam als objektive Beobachterin, ohne zu beurteilen und ohne erhobenen Zeigefinger.
Während einer inspirierenden Phase an der Kunsthochschule in Braunschweig, schuf Almuth Baumfalk dieses beeindruckende Werk in einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, des Mauerfalls und des Niedergangs der Sowjetunion. Zurückgekehrt von einem einjährigen Aufenthalt an der renommierten School of the Art Institute of Chicago, brachte Baumfalk neue Kunstströmungen und Techniken mit, darunter „Pattern Art“ und „Foto-Image-Transfer“. Diese innovativen Einflüsse kombinierten sich in ihrer „Ostfrieslandkarte“, die in einer faszinierenden Mischung aus Tempera-Malerei und Siebdruck auf Nesselstoff entstand. Die Rhythmen der Pattern Art und die Techniken des großformatigen Siebdrucks, die sie in Chicago kennengelernt hatte, flossen direkt in ihre Arbeit ein. Das Jahr 1990 war eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung, sowohl global als auch persönlich für Almuth Baumfalk. Die politischen Veränderungen und die Wende, welche zumindest zeitweise ein Meer gesellschaftlicher Möglichkeiten eröffneten, prägten ein kulturelles Klima des Aufbruchs, während Baumfalks Erlebnisse und Weiterbildungen in den USA ihre künstlerische Entwicklung beeinflussten.
„Ostfrieslandkarte“ spiegelt die ambivalente Geschichte und Gegenwart landwirtschaftlicher Nutzung wider. Baumfalks Verwendung der ältesten Karte Ostfrieslands von Ubbo Emmius aus dem Jahr 1595 als Vorlage für die Umrisse der Region, verleiht dem Bild eine historische Tiefe. Die Halbinsel ist buchstäblich von Blut und Milch durchtränkt. Mit dieser Grafik gelang es Baumfalk, traditionelle und moderne Elemente zu einem dynamischen Gesamtwerk zu vereinen, das sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart Ostfrieslands lebendig werden lässt. Dieses Bild markierte einen bedeutenden Meilenstein in ihrer Karriere und trug dazu bei, dass sie zwei Jahre später ein DAAD-Stipendium für die USA erhielt, wo sie unter anderem mit dem bildenden Künstler Nick Cave ihre Arbeiten weiterentwickelte.
Baumfalk beschreibt ihr Werk selbst als heiter, trotz der Assoziationen zu Massentierhaltung. Die Kombination aus dekorativer Musterung und den fröhlichen Farbtönen soll eine positive Grundstimmung vermitteln, während die Kuhpyramide bewusst eine kritische Auseinandersetzung mit Fleischkonsum anstößt.