„Wolken bedecken die Sonne / Für einen Moment / Zugvögel!“ (Matsuo Basho)
Brigitte Kranichs (*1933) Farblinolschnitt „Nun ziehen die Grauen wieder“ zeigt einen Vogelzug, in dem lange Hälse, gestreckte Körper und ausladende Flügel der Kraniche sich teils überlappen und ein dichtes, rhythmisiertes Bildfeld formen. Die Vögel und Teile des Bildrandes sind in einem blaugrauen Ton gehalten, in dem sich schwarze Strukturen abzeichnen, die an Flügelzeichnungen erinnern; der helle weiße Untergrund hebt die Silhouetten und lässt die Figuren wie im Flug eingefrorene Signale erscheinen. Die reduzierte Farbgebung und die klare Grafiksprache verwandeln individuelle Vogelkörper in ein kollektives Zeichen des Zugs.
Die Bildwirkung lebt von der Spannung zwischen Figuration und Ornament. Die wiederholten Vogelformen wirken wie eine choreografierte Serie, die Bewegung andeutet, ohne sich in naturalistische Details zu verlieren. Das Blau vermittelt Dämmerung oder Hochnebel, zugleich erzeugen die schwarzen Strukturen im Farbraum eine Art Gefiedertextur, die das Auge zwischen Oberfläche und Tiefe hin- und herschiebt. Das Ergebnis ist eine stille, fast staccatoartige Musik des Flugs, die das Blatt wie eine visuelle Fanfare für den Herbsthimmel wirken lässt.
Der Titel „Nun ziehen die Grauen wieder“ verankert das Werk im saisonalen Phänomen des Vogelzugs. Jetzt im Herbst ist Ostfriesland ein wichtiger Knotenpunkt für durchziehende und rastende Kraniche; ihre Formationen und Trompetenrufe prägen die Landschaft und machen den Zug zu einem kollektiven Erlebnis für Beobachtende an der Küste und in den Feuchtgebieten. Die grafische Verdichtung dieses Blattes fängt das gebündelte, choreografische Auftreten der Vögel ein und übersetzt akustische Präsenz in visuelle Rhythmik.
Dass die Künstlerin Kranich heißt, ist mehr als ein ironischer Zufall; die Namensgleichheit verleiht der Darstellung eine stille Pointe, ohne dokumentarisch zu werden. Brigitte Kranich wurde 1933 in Bublitz/Pommern geboren, fand nach der Flucht zunächst in Bayern und später in der Lüneburger Heide ihre neue Heimat und entwickelte sich durch ein intensives, autodidaktisches Studium der Kunst in wenigen Jahren zu einer eigenständigen bildnerischen Handschrift.
Sie lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Toppenstedt; ihr Werk umfasst vielfarbige Linolschnitte, Monotypien, Federzeichnungen und Collagen, thematisch reichen ihre Bilder von Märchen, Sagen und Traumgestalten bis zu Landschaften, biblischen Szenen und poetischen Erzählbildern. Ihre Druckgrafik wurde an vielen Orten gezeigt und ist in zahlreichen Sammlungen vertreten; lyrische Texte begleiten häufig den Entstehungsprozess und schließen die Bilder zu erzählerischen Einheiten zusammen.
Formal liegt ihre Stärke in der Linolschnitt-Technik: das graphische Ausschneiden von Formen, die serielle Anordnung von Figuren und die begrenzte Farbwahl schaffen eine dichte, erzählerische Bildwelt. In „Nun ziehen die Grauen wieder“ nutzt sie diese Mittel, um ein Naturereignis zu kondensieren; der Druck macht das Flüchtige des Vogelzugs sichtbar und verwandelt Beobachtung in Zeichen. Die grafische Ökonomie des Blattes lässt Raum für Assoziation, so dass Betrachterinnen und Betrachter zugleich Augenzeugen einer Szene und Leser eines symbolischen Textes werden.
Das Bild erinnert daran, dass Kunst Wahrnehmung schärft: Wer Kraniche beobachtet, lernt, auf Linien am Himmel, auf Gruppenbewegungen und akustische Signale zu achten. In Ostfriesland gehört dazu auch Verantwortung; Schutzgebiete und Rücksichtnahme helfen, dass die Kraniche Rast- und Überwinterungsplätze ungestört nutzen können. Kranichs Blatt ist deshalb nicht nur eine poetische Hommage an die Vögel, sondern auch eine Einladung, die Natur mit Aufmerksamkeit und Respekt zu begleiten, damit die Grauen auch künftig in ihren Formationen über Moor und Marsch ziehen können.
„Nun ziehen die Grauen wieder“, Farblinolschnitt, Brigitte Kranich o.J., 32,5 x 30,5 cm, OLA 70402