„De Tied geiht hen, und wi gahn mit.“ (Niederdeutsche Redensart)
Als Ina-Marie Bonow (*1930) diese magisch anmutende Radierung 1978 schuf, die die Burg Stickhausen in der ostfriesischen Gemeinde Detern darstellt, arbeitete sie bereits seit elf Jahren als Realschullehrerin und Kunsterzieherin an der Friesenschule in Leer. Die vorliegende Radierung ist nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch ein Fenster in die Vergangenheit und ein Zeugnis der kulturellen Identität der Region. Auch lässt sich anhand des Bildes das große Thema im Werk der Künstlerin ausmachen, nämlich die Darstellung des Gegensätzlichen von Bewegung und Statik, Natur und Menschenwerk, hier am Beispiel der Interaktion des steinernen Gebäudes mit den fließenden Formen der umgebenden Natur.
Die Burg Stickhausen, deren Ursprünge bis ins späte Mittelalter zurückreichen, ist ein bedeutendes Bauwerk in Ostfriesland. Ihre Architektur spiegelt die typischen Merkmale der nordwestdeutschen Burgen wider, mit massiven Mauern und einem markantem Turm, der auf dem Bild gleichsam in die umliegende Landschaft hineingewachsen erscheint. Im Unterschied zu den anderen Burgen in Ostfriesland war die Burg Stickhausen niemals der Sitz eines Häuptlings. Sie wurde etwa im Jahr 1435 von der Hansestadt Hamburg erbaut, um ihre Handelsrouten nach Westen abzusichern. Nach intensiven Konflikten verpfändeten die Hamburger die Burg Mitte des 15. Jahrhunderts an den Häuptling und späteren Grafen Ulrich I. Graf Edzard I. ließ um 1498 den heute noch bestehenden Rundturm errichten. Die Radierung von Bonow fängt die märchenhafte Präsenz der Burg in feinen Linien und Schattierungen ein, wodurch die Details der Fassade und die umgebende Natur lebendig werden.
1978 war ein Jahr des Wandels und der kulturellen Entwicklungen in Deutschland und der Welt. Ina-Marie Bonow, die insbesondere für ihre Pastell- und Aquarellmalerei bekannt ist, nutzte in ihrer Arbeit die Möglichkeiten grafischer Darstellung, um eine Verbindung zwischen Natur und Kultur herzustellen. Ihre Radierung der Burg Stickhausen ist ein Beispiel für diesen Dialog. Die Wahl der Burg Stickhausen als Motiv ist nicht zufällig. Die Burg steht symbolisch für die Geschichte und die Identität der Region Ostfriesland. Sie ist nicht nur ein architektonisches Meisterwerk, das die Zeit überdauert hat, sondern auch ein Ort, der Geschichten von Macht und Menschenwerk erzählt. In Bonows Radierung wird diese Symbolik sichtbar, indem sie die Burg nicht nur als Gebäude, sondern als Teil eines größeren narrativen Kontexts darstellt.
Die Technik der Radierung ermöglicht es der Künstlerin, mit Licht und Schatten zu spielen und eine Atmosphäre zu schaffen, die den Betrachter in die Szenerie hineinzieht. Die feinen Linien und die präzise Detailarbeit lassen die Burg lebendig erscheinen, während die sanften Schattierungen die umgebende Landschaft harmonisch integrieren. Dadurch entsteht ein Gefühl von Zeitlosigkeit, das sowohl die historische Bedeutung der Burg als auch die künstlerische Vision von Bonow widerspiegelt.
Ina-Marie Bonows Radierung ist ein Dokument der Zeit und ein Ausdruck der Wertschätzung für die kulturellen Wurzeln Ostfrieslands sowie das Zusammenspiel von Natur und Kultur. Sie lädt den Betrachter ein, die Wechselwirkungen und Untrennbarkeit beider Sphären zu entdecken und sich darüber hinaus mit der reichen Tradition der Region auseinanderzusetzen. In einer Zeit des Wandels erinnert sie uns daran, wie wichtig es ist, die Vergangenheit zu bewahren und die Geschichten, die unsere Identität prägen, zu erzählen.
„Burg Stickhausen“ Farbradierung, 19,5 x 15,0 cm. Ina-Marie Bonow 1978. OLA 70086 (Foto: Ostfriesische Landschaft)