„Ein Fehltritt ist genug zum Fall“. (August von Kotzebue)
Jens Lausen (1937-2017) gilt als prägender Vertreter der deutschen Nachkriegsavantgarde, in der er die Spannung zwischen technischer Präzision und poetischer Metaphysik auslotete. Sein 1970 entstandener Farbsiebdruck „Ein Fehltritt wirft seinen Schatten voraus“ zeigt bereits in der Wahl des Mediums sein Interesse an serieller Reproduzierbarkeit und individueller Variation. Jeder Druck dieser nummerierten Serie ist handwerklich exakt gearbeitet, zugleich lassen feine Unregelmäßigkeiten in der Farbauftragung jede Ausgabe als Unikat erscheinen.
Auf 61 mal 50 Zentimetern entfaltet sich eine Bildfläche, die von einem schmalen Rahmen eingefasst wird und den Blick sofort auf ein regelmäßiges Muster aus weißen und braunen Längsstreifen lenkt. Diese streifenförmige Grundstruktur verjüngt sich im oberen Drittel allmählich, bis sie in abstrahierte Bergsilhouetten in Blau- und Hellblau-Tönen mündet, über denen ein flächiges Gelb den Himmel ausbreitet. Im Zentrum dieser Ordnung stehen dreizehn rot-rosafarbene Zylinder, die wie Tupfer in einem vorgezeichneten Raster wirken. Ihre scheinbar perfekte Anordnung wird jedoch durch einen verschobenen Zylinder gestört, dessen fein geschraffelte Umrandung und der markant dunkle Schatten, den er wirft, Unwägbarkeiten ankündigen.
Lausens Hintergrund als Schüler von Kurt Kranz, Werner Bunz und Georg Gresko an der Hochschule für bildende Künste Hamburg schlägt sich in seiner Arbeit nieder: Die konstruktivistische Klarheit der Form kommt ebenso zur Geltung wie die Anspielung auf romantische Landschaften im Geist von Caspar David Friedrich und die rätselhafte Stimmung, die Giorgio de Chirico in seinen Metaphysische Bildräumen schuf. Der gezielte Bruch in der seriellen Ordnung der Zylinder verweist auf die Unberechenbarkeit selbst streng geplanter Systeme und lässt den Betrachter den Titel der Arbeit unmittelbar nachempfinden.
Im Jahr 1970 war Westdeutschland von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt. Mit Willy Brandts Ostpolitik eröffnete sich ein Dialog mit den ehemaligen Ostblockstaaten, während der gesellschaftliche Aufbruch der 68er-Bewegung in Umwelt- und Anti-Atom-Protesten mündete. Die analoge Spannung zwischen dem festen Raster und dem verschobenen Element in Lausens Siebdruck kann als Sinnbild dieser Zeit gelesen werden, in der alte Sicherheiten infrage gestellt und neue Visionen demokratischer Teilhabe formuliert wurden.
Heute fordert „Ein Fehltritt wirft seinen Schatten voraus“ uns dazu auf, die subtilen Warnsignale in unseren eigenen Ordnungen wahrzunehmen. Wenn ein einzelner Ausreißer genügen kann, um ein scheinbar stabiles Gefüge ins Wanken zu bringen, erinnert uns das Werk daran, mit wachen Sinnen durch die Gegenwart zu gehen, Fehltritte als Impuls für Veränderung zu begreifen und die kulturelle Reflexion als Motor für ein menschlicheres Miteinander zu nutzen.
„Ein Fehltritt wirft seinen Schatten voraus“, Farbsiebdruck, Jens Lausen 1970, 61 x 50 cm, OLA 70441