„Du bist das Universum, das sich selbst erlebt.“ (Alan Watts)
Ein Kopf im Profil, doch innen ein Labyrinth: Bernhard Jägers (*1935) Farblithographie „Pseudojanus“ öffnet den Blick auf ein Geflecht filigraner Strukturen, die an Knochen und Blutgefäße erinnern. Rot- und Blauverläufe markieren Pfade durch Nasenhöhle und Speiseröhre. Spitze Dreiecke hinter dem Mund deuten Zähne an. Die Figur steht vor einer gelb-grauen Fläche mit blauen Punkten, deren Kontur links ein zweites Profil schneidet. Drei horizontale Linien verknüpfen den rechten Kopf mit diesem Umriss. Unten deutet eine grüne Fläche Kleidung an, der Hintergrund pulsiert gleichsam unruhig rot.
Der Titel, der auch zum Übergang in das neue Jahr passt, ruft Janus auf – den römischen Gott der Übergänge, Schwellen und Doppelgesichtigkeit. Doch hier ist der Januskopf ein Trugbild. Kein echtes Zwei-Gesichter-Motiv, sondern ein Einzelprofil, das sich über die gelbe Fläche sein „Gegenüber“ konstruiert: ein Pseudo-Janus eben. Jäger spielt mit Projektion und Verbindung, mit dem Gedanken, dass Innenleben und Außenkontur sich gegenseitig spiegeln, ohne identisch zu sein. Der „zweite Kopf“ entsteht aus Kontext, Linie und Farbe – aus Relation statt Substanz. „Pseudojanus“ fragt damit nach dem Moment des Übergangs – zwischen Körper und Zeichen, Oberfläche und Tiefe, Selbstbild und Fremdbild.
1974, im Medium der Farblithographie, arbeitet Jäger in einem Verfahren, das seiner Laufbahn eng eingeschrieben ist: Der Künstler entwickelte in Lithografie-Werkstätten und mit der Gulliver-Presse eine ausgeprägte grafische Sprache, die serielles Denken, präzise Linienführung und experimentelle Farbsetzungen verbindet. Die Wahl der Lithographie wird hier zum Konzept: Schichten, Überdrucke und die feine Körnung des Steins tragen die Idee einer doppelten, aber nicht identischen Erscheinung – passend zum „Pseudo“ im Titel.
Jägers „Pseudojanus“ setzt dem antiken Bild des doppelseitigen Gottes ein zeitgenössisches Gegenbild entgegen: ein singulärer Kopf, der durch Kontext zur Doppelung wird. Übergang wird nicht als Addition von Gesichtern verstanden, sondern als Bewegung der Aufmerksamkeit – ein Wechsel der Blickrichtung, in dem Linien buchstäblich Brücken schlagen zwischen Form und Bedeutung.
„Pseudojanus“ denkt Übergänge konstruktivistisch: Es gibt keine zweite, verborgene Wahrheit hinter dem Bild – das „andere Gesicht“ entsteht durch Beziehung, Rahmung und unsere interpretierenden Blicke. Bedeutung ist hier kein Fundstück, sondern ein Geflecht, das wir im Betrachten knüpfen. Die gelb-graue Fläche mit Punktierung wird zur Projektionsfläche, die horizontalen Linien zur Brücke, auf der unser Denken das Gegenüber erst erzeugt.
„Pseudojanus“ zeigt ein Subjekt, das sich selbst als Welt konstruiert: Die innere Vernetzung wird nicht nur anatomisch, sondern epistemisch gelesen – als Karte, mit der wir Außenräume deuten. Die gelbe, punktierte Fläche und die verbindenden Linien machen sichtbar, wie das Individuum dem Gegenüber Kontur verleiht, indem es eigene Muster nach außen projiziert. Was als „zweites Profil“ erscheint, ist keine ontologische Gegebenheit, sondern das Echo unseres Deutens.
Das Blatt „Pseudojanus“ entstand 1974, ein Jahr nach dem Tod des in der westlichen Alternativkultur einflussreichen Religionsphilosophen Alan Watts (1915–1973). Watts’ Denken, das die Trennung von Person und Umwelt infrage stellte, bietet einen fruchtbaren Deutungsrahmen für Jägers Werk: Für Watts bilden Individuum und Umwelt kein starres Innen und Außen, sondern ein dynamisches Prozessgefüge, in dem Organismus und Umgebung wechselseitig hervorgebracht werden. Die Haut erscheint ihm nicht als undurchdringliche Grenze, sondern als membranartige Schnittstelle, die verbindet und zugleich unterscheidet.
Identität ist demnach kein isoliertes Ding, sondern ein Muster im Feld, das in der Wechselwirkung entsteht; das „Ich“ ist nicht unabhängiger Beobachter, sondern Ausdruck der Welt, die sich selbst erfährt. In dieser Perspektive zerfällt ein strenger Objektivismus: Ein neutraler „Blick von Nirgendwo“ existiert nicht, weil jede Erkenntnis situiert, beteiligt und relational gebunden ist. Jägers „Pseudojanus“ visualisiert diese Einsicht, indem er die Doppelung nicht als ontologische Gegebenheit, sondern als produktive Projektion des Subjekts in seine Umwelt zeigt.

„Pseudojanus“, Farblithographie, Bernhard Jäger 1974, 63 x 46 cm, OLA 70353























