Grenzübergreifende Exkursion zum Erinnerungszentrum Westerbork am 10. Juni 2023 gefördert durch den Kleinprojektefonds des Interreg VI A-Programms war voller Erfolg.
Der Arbeitskreis „Reise ins jüdische Ostfriesland“ unternahm am 10. Juni 2023 einen geführten Rundgang durch das Erinnerungszentrum des ehemaligen Durchgangslagers Westerbork (Herinneringscentrum Kamp Westerbork) in der niederländischen Provinz Drenthe. Das Projekt wurde durch das Interreg-Programm Deutschland-Nederland ermöglicht und von der Europäischen Union kofinanziert.
Die deutsch-niederländische Exkursion war der Auftakt einer auf Dauer angelegten Kooperation zwischen der Folkingestraat Synagoge Groningen und der Kulturagentur der Ostfriesischen Landschaft unter besonderer Mitwirkung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland.
Ziel war es, Frauen und Männer, die sich im Rahmen verschiedener Institutionen und Initiativen in Ostfriesland und den benachbarten niederländischen Provinzen mit jüdischem Leben und jüdischer Erinnerungskultur befassen und sich beiderseits der Grenze für die Sichtbarmachung jüdischer Kultur in Vergangenheit und Gegenwart einsetzen, miteinander ins Gespräch zu bringen.
Rund dreißig Teilnehmende fanden sich am Veranstaltungstag im Erinnerungszentrum ein, um von der niederländischen Journalistin und Gedenkstättenmitarbeiterin José Martin einen umfangreichen Einführungsvortrag zum ehemaligen Durchgangslager Westerbork zu erhalten, der kenntnisreich und sachlich über die grausamen und menschenverachtenden Ereignisse vor Ort und die damit verbundenen persönlichen Schicksale informierte.
Das Polizeiliche Judendurchgangslager Westerbork war in den deutsch besetzten Niederlanden eines der beiden zentralen Durchgangslager (KZ-Sammellager), von wo aus niederländische oder sich in den Niederlanden aufhaltende deutsche Juden in andere Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Anne Frank war eine von ihnen.
In den Niederlanden ist der Begriff Kamp W. bzw. Concentratiekamp W. verbreitet. Vor der Nutzung als KZ hatten die Niederländer hier aus dem Reich geflüchtete Juden interniert. Seit 1983 befindet sich ein Erinnerungszentrum in der Nähe des ehemaligen Lagers, in dem die Geschichte des Durchgangslagers Westerbork dargestellt wird.
Im Anschluss an den Vortrag bat sich den Teilnehmenden bei einem Rundgang durch die Ausstellung die Möglichkeit miteinander ins Gespräch zu kommen. Anschließend ging es mit dem Shuttlebus auf das Gelände des ehemaligen Durchgangslagers.
Das Grundstück des ehemaligen Lagers ist heute eine freie Fläche inmitten eines Waldgeländes. Dreieckige Steine und Erdaufschüttungen markieren die Positionen der ehemaligen Baracken und Gleise. Trotz schönsten Sonnenscheins und blühender Lupinen war das Grauen, das in diesen Ort eingeschrieben ist, spürbar. Besonders eindrücklich erwies sich ein Güterwaggon, aus dem im Vorübergehen die Namen und Geburtsdaten der damals in die Vernichtungslager im Osten Deportierten zu vernehmen waren.
Abschließend versammelte man sich im Konferenzraum des Erinnerungszentrums zu einem Impulsvortrag der Leiterin des August-Gottschalk-Hauses, Anke Kuczinski. Das August-Gottschalk-Haus ist Museum und Gedenkstätte zur neueren Geschichte der ostfriesischen Juden in Esens. Es ist im ehemaligen Schulhaus der örtlichen jüdischen Gemeinde untergebracht, unmittelbar neben den Resten der in der Pogromnacht am 10. November 1938 zerstörten Synagoge. Das Museum wird nebenbei bemerkt Ziel sein der nächsten grenzübergreifenden Exkursion des niederländisch-deutschen Netzwerkes.
Das Netzwerk „Reise ins jüdische Ostfriesland“ feiert in diesem Jahr übrigens sein 10-jähriges Bestehen. Anlässlich des 75. Jahrestages der Progromnacht 1938 in Deutschland hatten sich 2013 insgesamt siebzehn Einrichtungen, davon neun Museen und fast alle ehemaligen Synagogengemeinden, zu einem Arbeitskreis zusammengeschlossen. Seither trifft sich das Netzwerk, das über die Jahre immer mehr Menschen und Institutionen für sich gewinnen konnte, regelmäßig unter der federführenden Organisation der Kulturagentur der Ostfriesischen Landschaft.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschwand die jüdische Kultur im Vergleich zum übrigen Deutschland in Ostfriesland bemerkenswert schnell aus dem bis dahin gemeinsamen Alltagsleben von Juden und Nichtjuden. Das Projekt „Reise ins jüdische Ostfriesland“ erinnert an das einst lebendige jüdische Leben in der Region.
Das geschieht durch das vielfältige Engagement der Netzwerkpartnerinnen und Netzwerkpartner. Die verschiedenen Projekte zeigen in beeindruckender Weise, wie ein Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Allen jedoch geht es insbesondere darum, dem vielfältigen jüdischen Leben in Ostfriesland bis zur Shoah und darüber hinaus wieder ein Gesicht zu geben. Denn gemeinsame Erinnerung ist ein Weg zur Heilung und damit zur Versöhnung.
Mittlerweile ist der Arbeitskreis weit über die Region hinaus bekannt geworden und auch niederländische Akteure erscheinen zu den regelmäßigen Netzwerktreffen, weshalb mittlerweile eigentlich nicht mehr von „Reisen ins jüdische Ostfriesland“ gesprochen werden kann. Man ist derzeit auf der Suche nach einem neuen Namen, um dieserart den grenzübergreifenden Charakter des Projekts hervorzuheben.
Um den Arbeitskreis noch stärker miteinander ins Gespräch zu bringen und um die grenzübergreifende Ausrichtung der Thematik zu betonen, die sowohl für das niederländisch-deutsche Grenzgebiet als auch für ganz Europa relevant ist, hat die Arbeitsgruppe beschlossen, zukünftig verstärkt Exkursionen und Tagungen zu organisieren, um sich noch professioneller mit der musealen Aufbereitung von Erinnerungskultur zu beschäftigen und um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Die Exkursion zum Erinnerungszentrum Kamp Westerbork stand ganz im Zeichen dieses neuen grenzübergreifenden Ansatzes der Arbeitsgruppe, die sich wie alle aktiven Netzwerke stets über neue Mitglieder freut. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an: otto@ostfriesischelandschaft.de.