Die meisten von Grimms Märchen thematisieren das Alter in seiner Verletztlichkeit, Hinfälligkeit und Todesnähe. Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) hingegen tun das nicht, im Gegenteil: Dieses Märchen entwickelt eine Utopie des Alters. Hier nehmen die todgeweihten Heldinnen und Helden des Alters (Esel, Hund, Katze, Hahn) ihr Schicksal selbst in die Hand und wissen es zu wenden. Dabei schlagen sie ebenso abenteuerliche wie avantgardistische Wege ein, werden zu Glücksrittern und gründen die erste Alten-WG der Welt (wenigstens die erste literarisch verbürgte). Auf diese Weise geben die Bremer Stadtmusikanten Antworten auf die Frage, wie ein gelingendes Leben noch im hohen Alter aussehen könnte. Was also hat es mit dem Alter in diesem Märchen auf sich? Welches Altersbild wird vermittelt? Wie hängt dieses Altersbild mit der Erzählform zusammen?
Diesen Fragen ging Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann in seinem Online-Vortrag für die Kulturagentur nach. Und entwarf dabei auf der Grundlage des Märchens von den Bremer Stadtmusikanten ein Bild vom gelingenden Alter(n). Renitenz als Revolte gegen einseitige und berechnende Stereotypisierungen und Menschenbilder sollte sich allerdings nicht allein auf die Lebensphase des Alters beschränken: Das ganze Leben muss sich ändern, wie auch Simone de Beauvoir nachdrücklich betont. Allein kann das kaum gehen, insbesondere nicht angesichts von Multimorbidität, Vulnerabilität und Endlichkeit. Und so besteht vor dem Hintergrund zunehmenden
Angewiesenseins und zunehmender Hilfsbedürftigkeit – jenseits der Optionalität von Selektion, Optimierung und Kompensation – die nicht unbedeutende Chance, die gegenseitige Bezogenheit bzw. die Gemeinschaft der Menschen durch die Erfahrung individueller Begrenzung wieder stärker zu erkennen. Das Grimm’sche Märchen von den Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) erzählt eine solche Geschichte von Renitenz und Vergemeinschaftung.
Die vier alten Arbeitstiere Esel, Hund, Katze und Hahn werden den an sie gerichteten Leistungsanforderungen nicht mehr gerecht, weshalb ihnen das Schlimmste droht. Sie sind nutzlos geworden, überflüssig und unbrauchbar. Der Esel leidet an zunehmender körperlicher Gebrechlichkeit, denn er kann die Lasten nicht mehr tragen, die man ihm täglich bei der Arbeit in einem Industriebetrieb aufbürdet, Altersteilzeit oder gar Ruhestand kennt er nur aus lange zurückliegenden Erzählungen seiner Großmutter. Ähnlich geht es dem Hund, dessen ehemalige körperliche Leistungsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft im Alter stark nachgelassen hat – trotz lebenslanger Ernährungsdisziplin, eisernem Training im Fitness-Studio sowie zahlreicher Umschulungen, Fortbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen kann er bei der unausgesetzten Jagd nicht mehr richtig Schritt halten. Vielleicht will er es auch nur nicht mehr. Jüngere sind da, die ihn überholen, effizienter agieren und sich flexibler positionieren. Auch die Katze ist ihrer Arbeit ganz offensichtlich nicht mehr gewachsen. Anti-Aging ist für sie schon lange keine Option mehr. Von ihr wird erzählt, dass sie lieber hinter dem Ofen sitzt und spinnt, als Mäuse zu fangen. Nehmen wir dies als eine Metapher für die altersbedingte kognitive Beeinträchtigung der Katze, möglicherweise für eine beginnende Demenz und das damit zusammenhängende zunehmende Unvermögen einer akkuraten Bewältigung der zum Gelderwerb erforderlichen Erwerbsarbeit. Auch der Hahn erfreut sich keiner ausnehmend guten Aussichten, denn er ist unmittelbar mit seiner Endlichkeit konfrontiert: Weil Gäste zum Essen geladen wurden, droht die finale Schlachtung zu einem ihm persönlich ganz offensichtlich verfrüht erscheinenden Zeitpunkt. Jedes Tier blickt einem schrecklichen, einem ausgesprochen fürchterlichen und entsetzlichen Ende entgegen: Esel, Hund, Katze und Hahn sollen aus dem Futter geschafft, totgeschlagen, ertränkt oder ihnen soll der Kopf abgeschnitten werden: Ein überaus grausiges Schicksal nach einem arbeitssamen und mühseligen Leben, dem die vier anfänglich machtlos und ausgeliefert gegenüberstehen, da sie noch alleine auf den ihnen unausweichlich erscheinenden Tod warten – ‚atomisiert, abgesondert und isoliert‘, wie Simone de Beauvoir sagen würde.
Doch als sie sich solidarisieren und gemeinsam zu neuen Horizonten aufbrechen – das Ziel ist die Freie Hansestadt Bremen – wendet sich das Blatt. Es ist jedenfalls nicht naive Weltflucht, die die Protagonisten antreibt, sondern die mutige Suche nach einer persönlichen und zugleich gemeinschaftlichen Alternative zur leistungs- und effizienzorientierten Ich-Jagd der Gegenwart. Originalität und Eigenart der einzelnen Darsteller sowie Renitenz und Revolte des Unternehmens finden dabei ihren eigenwilligsten Ausdruck in der gemeinsamen Musik und Performanz der greisen Tiere. Die Geschichte endet bekanntlich ‚on the road‘ und nicht in Bremen. In diesem Außen erfahren die vier Waldgänger ihre trotz aller individuellen Eigenheiten und Unterschiede grundlegende Bezogenheit zueinander. Das aufeinander Angewiesensein wird von ihnen nicht als ein persönlichkeitsschwächender
Verlust von Selbstbestimmung erlebt, sondern als erfreuliche Erfahrung allumfassender Geborgenheit und uneingeschränkten Eingebundenseins, welche die Angst besiegt: „Von nun an getrauten sich die Räuber nicht weiter in das Haus, den vier Bremer Musikanten gefiels aber so wohl darin, daß sie nicht wieder heraus wollten und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.“
Welf-Gerrit Otto
Der Kulturwissenschaftler und Märchenexperte Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann ist Herausgeber der internationalen Zeitschrift Fabula (Zeitschrift für Erzählforschung. Journal of Folktale Studies. Revue d’Etudes sur le Conte Populaire). Ferner ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Rats der Brüder Grimm-Gesellschaft und Mitglied im Präsidium der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Von 2002 bis 2012 Mitglied der Jury für die Vergabe des Brüder-Grimm-Preises der Philipps-Universität Marburg. Von 2007 bis 2010 Sachverständiger für die deutsche Bundesregierung. Bis zu seiner Emeritierung 2022 wirkte Zimmermann zuletzt als Ordinarius am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft in Zürich.