„Homo homini lupus„ [Thomas Hobbes 1642]
So etwas hatte es in den altehrwürdigen Räumlichkeiten der ostfriesischen Landschaft noch nicht gegeben: Kulturwissenschaftliche Mythenforschung in Korrespondenz mit klanggewaltigem Post-Rock. Der international bekannte Kulturanthropologe Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann und die ostfriesische Band MMTH gaben sich im Ständesaal in Aurich ein Stelldichein.
Gewalt im Märchen ist sprichwörtlich. Da werden Bäuche aufgeschlitzt, Kinder geraubt, Augen ausgestochen, Hexen im Ofen verbrannt, Frösche an die Wand geworfen. Dass Märchentexte nur so vor Brutalität strotzen, ist hinlänglich bekannt. Vielfältig sind die Bewertungen dieser Tatsache durch Wissenschaft und Pädagogik. Einig ist man sich jedenfalls, dass Gewalt ein Bestandteil unserer Welt ist. Die Kriege in der Ukraine und in Israel sind nur zwei Beispiele von vielen aktuellen.
Am Vorabend des Tages der Befreiung referierte der international renommierte Kulturwissenschaftler und Märchenexperte Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann im Landschaftshaus Aurich zu Gewalt im Märchen. Zimmermann stellte die verschiedenen Diskurse der Märchenrezeption anschaulich und anhand zahlreicher drastischer Beispiele dar. Angefangen von der Grimmschen Märchenausgabe von 1812 zeichnete der Forscher eine spannende Kulturgeschichte bis in die Gegenwart. So diskutierten die Siegermächte beispielsweise kurz nach dem zweiten Weltkrieg, ob die einheimischen Märchen die Deutschen zu Völkermord, Kriegsverbrechen und Antisemitismus verleitet hätten. Doch es existierten daneben vielfältige Gegenstimmen. Bruno Bettelheim etwa, US-amerikanischer Kinderpsychologe jüdischer Abstammung, verteidigte die Grimmschen Märchen gegen derartige Auffassungen. In seinem 1976 veröffentlichten Buch Kinder brauchen Märchen (The Uses of Enchantment) interpretierte er die Volksmärchen der Brüder Grimm psychoanalytisch. Trotz aller Grausamkeiten hielt er die Märchen für wertvoll, weil sie stets gut ausgingen. Bettelheim sieht die von ihm besprochenen Volksmärchen als Weg an, den „ungeheuren Abgrund zwischen den inneren Erfahrungen und der realen Welt“ zu überbrücken und innerlich zu wachsen. Diese Bewertung der Märchen teilt übrigens auch Zimmermann.
Das Besondere an diesem Abend in Aurich bestand aber vor allem im Wechselspiel von Wort und Musik. Die intellektuellen Ausführungen des Kulturwissenschaftlers zur Gewalt und Brutalität in den weltweit populärsten Texten deutscher Kinderliteratur wurden sinnlich erfahrbar durch klangegewaltige Musik. MMTH – das sind Jan R. Haneborger (E-Gitarre), Patrick Büch (E-Gitarre), Hanno Janßen (Schlagzeug) und Bernd Frikke (E-Bass). Harte Riffs, archaische Klanglandschaften, die den Saal rhythmisch fluteten und in mythisches Licht tauchten. Ein harter rockiger Klangteppich, der zu den Märchen und Mythen passte, um die es an diesem Abend ging. Die zeit- und raumlose Musik korrespondierte mit den ewigjungen Geschichten, kleidete die häufig missverstandenen und verkitschten Erzählungen in ein angemessenes Gewand.
Das Auditorium jedenfalls zeigte sich begeistert von diesem neuen Format. Und so diskutierte man im Anschluss an die Veranstaltung noch lange angeregt über das soeben Gehörte.